ALLES GESAGT
Verheißungsvoll rot gleißend brach die Sonne zu ihrer Tagesreise auf. Bald schon warf sie machtvoll goldgelbe Flecken durch ausladende Baumkronen auf den grauen Asphalt.
Nur spärlich bewachsene Berge, schroffe Felsen, sattgrüne Täler zogen an ihnen vorbei. Sie fuhren durch dunkle Tunnel und kühle, märchenhaft anmutende Wälder.
Der alte Audi schnurrte wie ein Kätzchen. Seit fast dreißig Jahren achtete Paul darauf, dass das Auto stets gepflegt und in gutem Zustand war.
Zum vierzehnten Mal unternahmen sie nun schon diese jährliche Reise.
Anne tagträumte auf dem Beifahrersitz, bewunderte versonnen die Landschaft und dachte an die erste Tour. Damals anlässlich der Geburt ihrer Enkeltochter.
Paul empfand Stolz bei seinen Gedanken an Sohn Michael.
Beide genossen schweigend nebeneinander ihr wortlos verstehendes Miteinander.
Früher hatte Paul die Strecke problemlos ohne Pause bewältigt. Seit einigen Jahren jedoch machten sie Rast und kehrten, abseits der Hauptstraße, bei dem Italiener ein. Michael hatte das romantische Lokal empfohlen.
„Wie immer?“, fragte der Kellner. Wenig später wurde die große köstliche Pizza serviert. Natürlich ohne Besteck.
„Darf es noch ein Dessert sein?“, war schließlich noch die obligatorische Frage des Serviteurs.
„Wir hätten gern zwei große Schokoeisbecher mit extra viel Sahne, bitte“, entschied Anne, ihren Mann liebevoll und verschmitzt zugleich anlächelnd. Paul bewunderte einmal mehr die bezaubernden Lachfältchen, die sich um die Augen seiner geliebten Frau bildeten.
„Dann ist heute wohl ein ganz besonderer Tag?“, war der Kellner überrascht. Bisher hatte das Pärchen stets dankend abgelehnt.
„Das wird er“, schweifte Annes Blick von der Terrasse über den wild-romantischen, grün umwucherten See. Schwäne tanzten mit- und umeinander.
Wieder unterwegs schmunzelte Anne vorfreudig in sich hinein. Wusste sie doch, was gleich geschehen würde.
„Spaß muss sein!“, meinte Paul lachend. Die kommenden Kilometer verliefen schnurgerade. Er gab Vollgas und forderte die dreihundertvierzig Pferdestärken auf, sich zu entfalten. Die beiden hatten großen Spaß an der Beschleunigung, die sie in die Rückenlehnen drückte.
„Meinst du, es geht ihnen gut?“, unterbrach Anne später das stille Beieinander.
„Ja, Michael hat alles im Griff.“
Die Sonne kleidete sich mittlerweile in ihr rotes Abendkleid. Die Schatten wurden länger.
Sie wusste, dass er es wusste. Schließlich war Paul fürs Staubsaugen zuständig. Und er war gründlich. Auch unter dem Bett. Natürlich hatte er die Röntgenbilder entdeckt.
„Was für ein schöner Tag!“, meinte Paul.
Anne legte ihre linke Hand auf seinen rechten Schenkel.
Am Himmel kämpfte die rote Sonne nun gegen den noch blassen Mond um die Herrschaft über die Nacht.
„Der perfekte Tag! Noch mal!“, forderte Anne mit kindlichem Vergnügen.
Paul schaltete einen Gang runter und gab erneut Vollgas. Entgegen seiner stets achtsamen Gewohnheit, wandte er seinen Blick von der Straße ab.
Er sah, wie eine Träne über Annes Wange rann.
„Ich liebe dich!“, nahm er bei Tempo zweihundertzwanzig vor der nächsten Kurve seine Hände vom Lenkrad.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor Ulrich Papke.
Korrigiert und lektoriert von Carolin Kretzinger.