Illustration zu "Teufelsberg" von Hari Patz.
TEUFELSBERG
Kapitel I
Unaufhaltsam rinnt die Zeit.
Fragen, tausendfach im Raum.
Tags gehüllt in Einsamkeit,
quält nachts mich böser Traum.
Braunrot und grüngelb lag Herbstlaub auf dem Kopfsteinpflaster. Unendlich währende Trauer lastete auf Peters Seele. Nebelschwaden am Morgen und des Abends versuchten erfolglos, die Vergangenheit in ihren Schleier des Vergessens zu hüllen. Immer länger überließ die Sonne den Himmel der Nacht.
Der Dunkelheit.
Der Einsamkeit.
Bernd war halbwegs vorbereitet. Zumindest sah die Küche einigermaßen okay aus. Sein bester, wohl einzig wahrer Freund, Peter, würde vorbeikommen. Wie immer an diesem speziellen Tag. Seit nunmehr sechs Jahren.
„Du siehst ja echt scheiße aus! Komm rein!“, öffnete Bernd die Wohnungstür, als es klingelte.
„Ich freue mich auch, dich zu seh´n“, erwiderte Peter.
„Oh, hast du Besuch? Tut mir leid!“, bedauerte dieser, als er Stimmen in Bernds Wohnzimmer hörte.
„Schön wär´s. Das ist nur der Fernseher“, lachte Bernd über sich selbst. „Willst du Kaffee? Ich wollte mir gerade einen machen.“
„Ja, danke. Hast du auch was mit Prozenten dazu?“
„Whisky?“, präsentierte Bernd eine Flasche Redbreast.
„Perfekt!“
„Nun setz dich endlich! Du machst mich nervös. Flasche?“
„Ich muss noch nach Hause fahren“, gab Peter zu bedenken.
„Kannst auch hier pennen“, bot Bernd in leiser Ahnung an.
„Überredet. Und danke!“, erhoffte Peter erlösenden Rausch.
„Also, wie es dir geht, muss ich nicht fragen“, hatte Bernd eine Vorstellung von der Verfassung seines Freundes.
„Naja, heute ist wieder dieser Tag“, schien Peter sich selbst umarmen zu wollen.
„Ich weiß! Mal wieder was von Anja gehört?“, hoffte Bernd, nicht allzu sehr in der Wunde zu bohren.
„Schon ewig nicht. Aber ich versuch´s auch nicht mehr. Du?“, antwortete Peter eher resigniert als hoffnungsvoll.
„Hab sie letzte Woche im Supermarkt getroffen. Sah gut aus! Wie immer.“
„Und, hat sie was gesagt?“
„Nur ‚Hallo‘ und ‚Wie geht’s‘. Meinst du nicht, ihr könntet euch noch mal vertragen? Ihr wart für mich immer das absolute Traumpaar“, übermannten Bernd da Erinnerungen an seine Jugend.
„Ach, hör auf! Der Zug ist schon lange abgefahren“, gestand sich Peter offenbar schweren Herzens ein.
„Ich glaub, sie gibt mir die Schuld.“
„Na, dann Prost!“, versuchte Bernd, seinen Freund abzulenken.
„Prost! Ich bin mal so frei.“
„Jaja. Schenk nach! Willst du auf den Balkon mitkommen?“
„Hab keine Zigaretten dabei. Ich will eigentlich aufhören.“
„Ausgerechnet heute? Kannst eine von meinen Luckys haben“, bot Bernd an.
„Okay.“
Die Freunde genossen ihre Zigaretten auf dem Balkon in der dreizehnten Etage des Hochhauses in Berlin Hohenschönhausen.
„Also diese Aussicht von hier ist einfach super. Den Blick auf den Park find ich besonders schön!“, gestand Peter.
„Ja, den mag ich auch. Besonders zu dieser Jahreszeit. Mit den bunten Herbstblättern. Nur manchmal ist es ziemlich laut. Sogar hier oben. Bist du noch oft draußen in der Stille?“, brachte Bernd schließlich das Thema doch zur Sprache.
„Am Teufelsberg? Ja. Seit sie weg ist, ist es dort noch stiller geworden. Obwohl es jetzt auf der Lichtung einen richtig tollen Spielplatz gibt. Aber nach dieser Sache wollen anscheinend nicht mehr viele Leute dort sein. Ich fahr so oft wie möglich raus. Nur heute wollte ich mir das nicht zumuten.“
„Klar, versteh schon“, konnte Bernd immerhin ansatzweise Peters unermessliche Trauer nachvollziehen.
„Ich weiß noch, wie wir als Kinder stundenlang da geklettert sind“, schwelgte Bernd nun in vergangener Zeit.
„Und Anja wollte unbedingt immer die Erste sein, die sich oben durch den kleinen Felsspalt quetscht. Weißt du noch, wie sauer unsere alten Herren dann immer waren?“
„Na, weil sie uns nicht hinterherkommen konnten. Aber sie haben uns jedes Mal gefunden, nachdem sie außen langliefen“, erinnerte sich Peter ziemlich genau an die Abenteuer aus Kindertagen.
„Mein Vater hat immer behauptet, der Spalt sei ein magisches Zaubertor“, sinnierte Bernd.
„Ein Weg-Zauber-Tor ... Tut mir leid, dass ich dich wieder vollheule“, hatte Peter Bedenken, seine Freundschaft mit Bernd überzustrapazieren.
„Alles gut! Ich hör dir zu“, beruhigte jedoch dieser.
„Wir hatten einen riesigen Haufen Herbstlaub zusammengesammelt und Anne stürzte sich immer wieder quietschvergnügt in die bunten Blätter. Das war so ein perfekter Tag! Bis wir auf den Teufelsberg rauf sind und sie natürlich durch diesen verfluchten Spalt klettern musste. Naja, wie die Eltern, so die Tochter“, brach es nun aus Peter heraus.
„Lass uns reingehen! Mir ist kalt“, versuchte Bernd erneut, seinen Freund abzulenken.
„Hau dich schon mal aufs Sofa! Ich hol nur schnell die Pulle und die Gläser“, stellte er vermeintlich tröstend in Aussicht.
„Was guckst du da eigentlich?“, richtete sich Peters Aufmerksamkeit auf das flimmernde TV-Programm.
„Ach, das ist ein lokaler Nachrichten-Stream. Ist manchmal ganz interessant, was in der Nachbarschaft so los ist.“
„… Sie herzlich zu unserer heutigen Sondersendung willkommen heißen. Mein Name ist Manuela Neumann. Heute vor sechs Jahren verschwand im Niederwaldbacher Naherholungsgebiet, vielen auch bekannt als Teufelsberg, die damals fünfjährige Anne spurlos. Aus diesem Anlass begrüße ich nun am Telefon den Leiter der Sondereinheit ‚Anne‘, Kriminalkommissar Walter Eschbach. Guten Tag, Herr Eschbach.“
„Guten Tag, Frau Neumann.“
„Der Eierkopp!“, war Peter nicht gerade begeistert, den ihm wohlbekannten Kommissar zu sehen.
„Die Schwachköpfe finden ja doch nichts Neues! Sorry Alter, aber kannst du was Anderes anmachen?“, bat er.
„Ich mach aus. Tut mir leid! Ich wusste nicht, dass die das bringen“, war Bernd gelinde gesagt peinlich berührt.
„Musik?“, versuchte er, seine Verlegenheit zu überspielen.
„Schon gut. Ja, aber keine traurigen Songs! Ich bin mal kurz …“
„Weißt ja, wo es ist.“
„Dein Handy hat unentwegt geklingelt während du auf Toilette warst!“, gab Bernd einen vermeintlich dezenten Hinweis.
„Bestimmt wieder bescheuerte Werbung. Letztens war es eine Nummer aus Pakistan“, überprüfte Peter den Nachrichteneingang auf seinem Smartphone.
„Ich glaub´s ja nicht! Was will die denn ausgerechnet heute?“ Anja hatte mehrere Nachrichten hinterlassen.
„Nun nimm schon an oder stell auf lautlos! Das Gebimmel geht mir auf´n Keks“, forderte Bernd, als ihm das anhaltende Klingeln langsam Sorgen bereitete.
Peter nahm schließlich den Anruf an.
„Was ist denn? Du weißt doch, welcher Tag heute ist!“
„Hallo Peter! Bist du zu Hause?“
„Bin bei Bernd.“
„Frag ihn, ob ich vorbeikommen kann.“
„Echt jetzt? Muss das wirklich sein? Ausgerechnet heute?“
„Mach einfach, bitte. Es ist wichtig!“
„Er nickt.“
„Okay, bis gleich.“
Schweigende Spannung machte sich breit, während die Freunde auf Anja warteten.
„Das muss sie sein. Entspann dich, okay? Gieß dir noch ´nen Whisky ein. Und versprich mir, dass ihr euch vertragt! Ich mach auf“, bat Bernd, als an der Wohnungstür das erlösende Klingeln ertönte.
„Großer Gott!! Was zum Teufel …? Wie …?“, war er kurz darauf weit davon entfernt, seine Überraschung in Worte fassen zu können.
„Hallo Bernd“, grüßte Anja, als wäre es die normalste Sache der Welt.
„Ich glaub, du solltest besser erst mal vorgehen“, realisierte dieser nicht wirklich, was gerade geschah.
„Hallo Peter. Schön, dich zu sehen“, betrat Anja die Wohnung.
„Hmm“, versuchte Peter, seine Aufregung zu kaschieren. Verdammt, sie sah wirklich gut aus!
„Ich hab noch jemanden mitgebracht“, waren Anjas vorsichtigen Worte.
„Ernsthaft? Du hast sie doch nicht mehr …“, bemühte sich Peter nun vergeblich Frust, Verzweiflung, Trauer, Hoffnung und Einsamkeit zu verbergen.
„Papa! Papa!“
Was Peter da sah, passte so gar nicht zu den furchtbaren Bildern, die er sich gar allzu oft ausgemalt hatte.
„Papa!“, kam Anne auf ihn zugelaufen.
„Oh mein Gott!!“, konnte sich Peter gerade noch vom Sofa erheben, nur, um sogleich auf die Knie zu sinken. Sein Herz hörte einige Sekunden auf zu schlagen. Wie gelähmt konnte Peter nicht mehr tun, als wort- und fassungslos ergriffen in Tränen auszubrechen.
„Mausebärchen?? Bist du´s wirklich??“, fand er endlich seine Sprache wieder.
„Komm, schnell knuddeln!“, umarmte er nach sechs Jahren verzweifelt erklärungsloser Trauer sein Mädchen.
„Geht´s dir gut? Wie ist das …? Lass dich mal ansehen! Was zum … Ich glaub, ich träume. Du siehst ja aus wie vor sechs Jahren!?“
„Und du bist ganz dünn! Warum hast du deine Haare so grau gemacht?“, war Anne erheitert neugierig.
„Wo bist du denn nur gewesen?“, warf Peter auch Anja einen fragenden Blick zu.
„Na, ich bin doch durchs Zaubertor geklettert. Und dann war ich beim Graumännchen“, berichtete Anne ganz aufgeregt.
„Grau… was?“ Peter konnte nicht folgen.
„Hihi. Graumännchen! Das wohnt doch da oben!“, kicherte Anne.
Und ihr Blick schweifte in die Ferne ...
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Alle Rechte am Text liegen beim Autor Ulrich Papke.
Korrigiert und lektoriert von Carolin Kretzinger.
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